Citizen-Science-Projekte an der Universität HamburgGemeinsam wissen schaffen
14. April 2020, von Christina Krätzig
Foto: UHH/Krätzig
Unter dem Begriff „Citizen Science“ arbeiten Universitätsangehörige immer häufiger mit Privatpersonen zusammen. Doch wenn Bürgerinnen und Bürger ohne akademischen Hintergrund Forschende mit Wissen und Zeit unterstützen, erwarten sie auch einen Nutzen – oder Wertschätzung und echte Beteiligung. Ein Streifzug durch die Fakultäten der Universität Hamburg.
Ein weißer Plastiktopf balanciert auf der Spitze eines Zelts aus feinmaschigem Netzstoff. Er ist zur Hälfte mit Alkohol gefüllt. Darin schwimmen unter anderem viele winzige Mücken und eine zartflügelige Köcherfliege. Torsten Demuth wirft einen Blick in den Topf und nickt: Er ist mit der Ausbeute zufrieden.
Alle zwei bis drei Tage kontrolliert der Bürgerwissenschaftler vom Verein „Neuntöter – Verein für Forschung und Vielfalt e. V.“ die Insektenfallen, die er gemeinsam mit Forschenden der Universität Hamburg auf dem Energieberg in Georgswerder und der Deponie Moorfleeter Brack aufgestellt hat. Auch die Behörde für Umwelt und Energie unterstützt das Monitoringprojekt, das mindestens 20 Jahre laufen soll, um zu zeigen, ob und wie sich das Insektenvorkommen in Hamburg ändert.
Ein mit Ernsthaftigkeit betriebens Hobby
„Ohne Bürgerwissenschaftler wie Torsten Demuth könnten wir so ein Langzeit- Monitoring nicht stemmen“, erklärt Dr. Martin Kubiak vom Centrum für Naturkunde, der das Projekt wissenschaftlich leitet. Die Universität hat kein Personal, das Demuths Aufgaben übernehmen könnte: Der Bürgerwissenschaftler kontrolliert und leert die Fallen, wiegt die ins Netz gegangenen Tiere und bestimmt einen Teil von ihnen. Er füllt sie in Flaschen, die er für die wissenschaftliche Aufbereitung sorgfältig beschriftet. Zudem pflegt und entwickelt er die insektengerecht angelegten Flächen auf dem Energieberg – einer ehemaligen, heute gesicherten Mülldeponie. Dafür investiert der freiberufliche Coach von April bis Oktober einen Arbeitstag pro Woche.
„Ich bin gern draußen und war schon als Kind wissenschaftlich interessiert“, erklärt er seine Motivation. „Hobbys finde ich nur dann befriedigend, wenn ich ihnen Raum geben und sie mit einer gewissen Ernsthaftigkeit betreiben kann.“
„Citizen Science“ ist modern, aber keine Erfindung des 21. Jahrhunderts
Unter dem Begriff „Citizen Science“ hat die Zusammenarbeit von Forschenden mit Amateurinnen und Amateuren in den vergangenen Jahren Einzug in den Wissenschaftsbetrieb gefunden. Neu ist das Prinzip jedoch nicht. So konnte beispielsweise das Oxford English Dictionary im 19. Jahrhundert nur durch die Mitarbeit von Tausenden Freiwilligen realisiert werden. Sie durchkämmten die englische Literatur nach Belegstellen für jedes einzelne der verzeichneten Schlagworte. Heute ist die Datenjagd oft einfacher.
Viele Citizen-Science-Projekte werten Umweltinformationen aus, die Bürgerinnen und Bürger mithilfe ihrer Smartphones sammeln: Lärm und Licht, Temperaturen, Luftqualität und vieles mehr. Apps, die auf diesen Daten beruhen, warnen vor Schadstoffen in der Luft oder berechnen den schattigsten Radweg zur Arbeit. „Citizen-Science-Projekte stellen uns vor neue Herausforderungen“, erklärt Prof. Dr. Walid Maalej, Leiter der Arbeitsgruppe „Angewandte Softwaretechnik“ an der Universität Hamburg. „Die Daten sind oft extrem unterschiedlich. Programmierer müssen sie standardisieren und sicherstellen, dass sie authentisch sind, das heißt nicht von Interessengruppen manipuliert. Und sie müssen qualitativ belastbar sein. Das heißt, wir müssen beispielsweise überlegen, ob und wie einfache Handysensoren ähnliche Messwerte liefern können wie teure Geräte.“
Lernende Sensoren seien hier eine gute Möglichkeit, so Maalej: „Sie vergleichen Daten untereinander und schließen Ergebnisse aus, die nicht plausibel sind. Sie würden also beispielsweise merken, wenn jemand die Außentemperatur mit dem Handy in der Jackentasche gemessen hat.“
Doch was erwarten Bürgerinnen und Bürger von der Zusammenarbeit?
Yen Dieu Pham ist Doktorandin bei Professor Maalej und promoviert zu Fragen der Nachhaltigkeit in der Informatik. Darüber hinaus interessiert sich die gelernte Architektin dafür, wie Bürgerinnen und Bürger mit Universitätsangehörigen zusammenarbeiten. Für einen Versuch haben sie und ein Kollege 20 Probandinnen und Probanden zusammengebracht; fünf von ihnen ohne wissenschaftlichen Hintergrund.
„Ich wollte wissen, ob Bürgerinnen und Bürger andere Ideen für eine App einbringen als die Forschenden und welche Ideen umgesetzt werden“, erklärt Pham. Sie stellte fest, dass Forschende sowie Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen ungewöhnliche Ansätze einbrachten, auch setzten sich die Ideen der Forschenden nicht signifikant häufiger durch. „Der Versuch einer Bürgerin wurde im Verlauf des Experiments jedoch relativ stark modifiziert“, sagt Pham. Woran das lag und was das für die praktische Arbeit bedeutet, müssten weitere Untersuchungen zeigen.
Was können Forschende zurückgeben?
Entstehen für jeden nutzbare Apps, liegt der Gewinn für die Beteiligten auf der Hand. Doch was erwarten Freiwillige, die helfen, eine rein wissenschaftliche Fragestellung zu bearbeiten? Was können, was müssen Forschende ihnen zurückgeben? „Keinesfalls darf man Bürgerinnen und Bürger allein für die Beschaffung von Material und Daten einspannen“, meint Thorsten Logge, Juniorprofessor für Public History an der Universität Hamburg.
Er forscht zu außeruniversitärer Auseinandersetzung mit Geschichte – etwa in populärwissenschaftlichen Fernsehformaten oder Geschichtswerkstätten, wie sie seit Anfang der 1980er-Jahre überall in Deutschland entstanden sind. „Mit solchen Gruppen arbeiten wir gelegentlich zusammen; zum Beispiel, um Biografien für Stolpersteine zu recherchieren“, erklärt Logge. „Oft kennen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Jahrzehnten mit Themen wie der NS-Zeit beschäftigt haben, infrage kommende Ansprechpartner und Archive genauer als wir.
Sie bei ihren eigenen Forschungsvorhaben zu unterstützen, sieht Logge als eine wichtige Dimension von Citizen Science. „Wir können ihnen die Werkzeuge geben, die sie brauchen, damit ihre Arbeit von professionellen Historikerinnen und Historikern akzeptiert wird. Eine Methode wäre hier das Hinterlegen von Quellen im Internet, sodass Schlussfolgerungen nachvollziehbar werden“, erklärt der Historiker.
Im Idealfall profitieren alle
Für den Bürgerwissenschaftler Torsten Demuth ist vor allem wichtig, dass er an der Konzeption und Planung des Monitoringprojekts auf dem Energieberg von Anfang an beteiligt war – und dass er auch wissenschaftliche Aufgaben übernimmt. Insbesondere das Bestimmen der Fänge sei eine Herausforderung, erklärt er: „In Deutschland sind etwa 33.000 Insektenarten bekannt. Viele unterscheiden sich nur unwesentlich voneinander und es gibt niemanden, der alle kennt.“ Demuth hat sich auf Großschmetterlinge und Heuschrecken spezialisiert. Manchmal nutzt er die Labore der Universität, meist aber erkennt er mit bloßem Auge, was er gefangen hat.
Eine kleine Sensation gelang ihm im Sommer 2019. „Eigentlich galt der Wegerich-Scheckenfalter in Hamburg als ausgestorben“, erzählt er. Doch durch die Funde konnte das Team nachweisen, dass sich der Schmetterling wieder vermehrt. Für seinen Einsatz für die Natur in Georgswerder erhielt der Bürgerwissenschaftler sogar eine Auszeichnung der Vereinten Nationen.
Die neue 19NEUNZEHN ist da!
Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen. Die Ausgabe erscheint aufgrund der Corona-Pandemie vorerst nur online.