Das Hanseatische im Wandel der ZeitForschung zu einem Identifikationsbegriff
10. Mai 2019, von Anna Priebe
Foto: UHH/Ohme
Das Aussehen, die Haltung, das Benehmen – bei einem Hamburger oder einer Hamburgerin gelten diese Dinge gern als „hanseatisch“. Was sich hinter diesem Begriff verbirgt und wie er sich im 20. Jahrhundert verändert hat, hat die Historikerin PD Dr. Lu Seegers in einem Forschungsprojekt an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) untersucht.
Was sind die Ergebnisse Ihrer historischen Betrachtung des Begriffes „Hanseatisch“?
Allgemein bezeichnet das Wort hanseatisch heute diffus eine Grundhaltung, die durch Nüchternheit, Pragmatismus, Weltoffenheit, Toleranz und Liberalität gekennzeichnet ist. Viel spricht jedoch dafür, dass das Hanseatische im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit sehr unterschiedlichen Bedeutungsinhalten verbunden und erst seit den 1950er-Jahren allmählich mit den heutigen Attributen konnotiert wurde.
So bezeichnete der oft beschworene Hanseatengeist im „Dritten Reich“ das genaue Gegenteil heutiger Zuschreibungen, nämlich eine rassistisch-kolonialistische Eroberungsmentalität, die Hamburger Kaufleute zu „Pionieren“ im „Volkstumskampf“ in Mittel- und Osteuropa stilisierte. Im Forschungsprojekt habe ich deshalb den Zeitraum von 1900 bis 1970 die Wandlungsprozesse der Selbstbeschreibung untersucht.
Kann man Ihre Ergebnisse kurz zusammenfassen?
Bis weit in das 20. Jahrhundert bezeichnete der Begriff „Hanseat“ nicht nur die geografische, sondern auch eine spezifische soziale Herkunft aus den drei Hansestädten – laut Duden des Jahres 1977 „besonders aus der vornehmen Bürgerschicht“. Selbst- und Fremdzuschreibungen stets männlich gedachter Hanseaten waren verknüpft mit Attributen wie Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, nüchterner Kalkulation und Solidität.
Hinzu kamen Zuschreibungen eines Lebensstils, in denen sich Wohlstand, Bescheidenheit und Zurückhaltung zu einer Gesamthaltung bürgerlicher Vornehmheit verdichteten. Anders als beim Begriff des Bajuwarischen ist deshalb davon auszugehen, dass „hanseatisch“ nicht nur einen Regionalcharakter beschreibt, sondern darüber hinaus ein in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht exklusiver und partiell ausschließender Begriff war und ist. Zugleich ist das Hanseatische auch als ein Legitimations- und Identifikationsbegriff anzusehen, der vor allem auf drei Feldern relevant zu sein scheint: zur Begründung von Herrschaft und Politik, zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen und zur sozialen Distinktion.
Wie kam der Begriff in die Politik?
Das Handelsbürgertum büßte nach dem Ersten Weltkrieg auch in Hamburg seine wirtschaftliche Vormachtstellung ein und verlor mit dem Fall des Klassenwahlrechts 1918/19 abrupt seine angestammten politischen Bastionen. Zum einen diente die Bezugnahme auf das Hanseatische dazu, eine gemeinsame Interessenspolitik der Hansestädte gegenüber dem preußischen Staat zu artikulieren. Zum anderen transportierte der Hanseaten-Begriff den Herrschaftsanspruch jener Kaufmannseliten, die zumeist der DVP oder der DNVP nahe und der Weimarer Republik kritisch gegenüberstanden. Der Begriff wurde zur Legitimierung der Demokratie genauso in Anspruch genommen wie zu ihrer Ablehnung.
Weitaus größer als bislang angenommen ist vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Begriffe Hanseat und hanseatisch für die Abfederung des Systemwechsels und die Legitimierung des Nationalsozialismus einzuschätzen. Nicht nur Hamburger Kaufleute schienen sich durch den im März 1933 eingesetzten „Regierenden Bürgermeister“ und Kaufmann Carl Vincent Krogmann zumindest formal repräsentiert gefühlt zu haben. Hamburger Tageszeitungen sprachen zudem häufig vom Hanseatischen, wenn es um die Wirtschaftskraft Hamburgs ging.
Stets ging es darum, Hansische Vergangenheit“ und „nationalsozialistische Gegenwart“ positiv miteinander zu verknüpfen.
Wie sah das denn während des Zweiten Weltkriegs aus?
Während des Zweiten Weltkriegs avancierten „hanseatische Kaufleute“ Hamburgs in zweierlei Hinsicht zu ideologisch aufgeladenen Leitfiguren. Erstens wurde „hanseatischer Unternehmergeist“ zur Legitimation neuer wirtschaftlicher Aktivitäten von ehemals in Afrika agierenden Überseehändlern in den besetzten Ländern genutzt, auch und gerade in Polen.
Zum anderen wurde „hansischen Kaufleuten“ eine reichsweit vorbildhafte Rolle bei der mentalen Bewältigung der Folgen des Bombenkriegs, insbesondere nach der „Operation Gomorrha“ im Sommer 1943, zugeschrieben. In den Tageszeitungen verstand man unter „Hanseatengeist“ nun Entschlossenheit, Härte und Unverzagtheit. Damit reproduzierten die Hamburger Tageszeitungen die Linie, die Propagandaminister Goebbels vorgegeben hatte. Der Bevölkerung wurde ein großer Durchhaltewillen zugeschrieben, während die konkreten Schäden weitaus weniger Beachtung fanden.
Allerdings war das Hanseatische auch im „Dritten Reich“ kein eindeutig fixierter, ideologischer Begriff gewesen, sondern wurde auch genutzt, um sich subtil bzw. partiell vom Nationalsozialismus zu distanzieren. So hatte etwa der Historiker Percy Ernst Schramm in seinem 1943 erschienenen Buch „Hamburg, Deutschland und die Welt“ auf der Folie hanseatischer Traditionen die engen Verbindungen Hamburgs zu England betont und die jahrhundertelange Selbstverwaltung der Stadt gelobt.
Ging es nach dem Krieg mit der Popularität des Hanseatenbegriffs nahtlos weiter?
In gewisser Weise, ja. Eine wichtige Rolle spielte das Hanseatische etwa bei der Interpretation von Historikern, Politikern und Kaufleuten, nach der Hamburg einen liberalen „Sonderweg“ in den Nationalsozialismus genommen hätte. Zugleich diente das Hanseatische dazu, Hamburger Traditionen für den demokratischen Wiederaufbau freizulegen. Denn es bot durch die ihm nun wiederum zugeschriebenen Elemente wie Rationalität, Pragmatismus und Weltoffenheit Potenzial zur Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus.
Nicht als Integrationsklammer, sondern noch einmal als politische Kampfparole wurde das Hanseatische in dem polemisch geführten Bürgerschaftswahlkampf des Jahres 1953 eingesetzt. Der Begriff sollte den konservativen „Hamburg-Block“ bestehend aus CDU, FDP und DP dazu dienen, ihre gewissermaßen traditionelle Kompetenz für das Allgemeinwohl zu dokumentieren. Auch die SPD unter Paul Nevermann versuchte 1961 mit dem werbewirksamen Slogan „Gute Hanseaten – Sozialdemokraten“, eine hanseatische Identität nunmehr wie selbstverständlich für sich zu reklamieren.
Welche Eigenschaften kommen Ihnen heute zuerst in den Sinn, wenn Sie das Wort „Hanseat“ hören?
Der Begriff ist auf jeden Fall sehr komplex. Er kann Demokratien ebenso legitimieren wie Diktaturen. Politische Player aller Richtungen können sich des Begriffs ermächtigen und tun das auch. Es ist einer dieser Sehnsuchtsbegriffe, mit dem sich ganz viele Menschen identifizieren können, deshalb kann er eben polyvalent verwendet werden. Das ist ein interessantes Ergebnis.
Weitere Informationen
Lu Seegers, Hanseaten: Mythos und Realität des ehrbaren Kaufmanns seit dem 19. Jahrhundert, in: Katalog des Europäischen Hansemuseums, Lübeck 2016, S. 106-110.
Lu Seegers, Hanseaten und das Hanseatische in Diktatur und Demokratie: Politisch-ideologische Zuschreibungen und Praxen, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2014, hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Hamburg 2015, S. 71-83.
Dieser Beitrag ist Teil des Artikels "Heimatforschung" im Jubiläumsmagazin "20NEUNZEHN" der Universität Hamburg.