Ein Mann für magnetische Momente
15. Oktober 2019, von Christina Krätzig
Foto: UHH
Edmund-Siemers-Allee, Anna-Siemsen-Hörsaal oder Von-Melle-Park: Gebäude und Straßen erzählen mit ihren Namen Geschichten, die eng mit der Universität Hamburg verbunden sind. 19NEUNZEHN stellt in einer Serie die Personen hinter diesen Namen vor. Dieses Mal Otto Stern, Nobelpreisträger und Pionier der Physik.
Sein Labor sah aus wie „ein gläserner Wald“, wie „der Alptraum eines Glasbläsers“ mit „Röhren und Kolben und Zylindern und Quecksilberpumpen, alle aus Glas geblasen, mit Dutzenden von Absperrhähnen“, erinnert sich Otto Sterns Assistent Robert Frisch, der 1930 zu Stern nach Hamburg kam. Dessen Experimente waren so schwierig auszuführen, dass sich „niemand auf der Welt daran wagte“ – und die Ergebnisse stießen in Bereiche der Physik vor, die niemand deuten konnte. Gelegentlich nicht einmal Otto Stern selbst: Frisch berichtet, dass er die Ergebnisse einer Messung einmal ein volles Jahr liegen ließ, in der Hoffnung, irgendwann eine Erklärung zu finden. Und noch 1961 gestand der Physiker, der 82 Mal für den Nobelpreis nominiert wurde, den Ausgang seines berühmtesten Experiments nicht wirklich verstanden zu haben.
1922 gelang ihm der Durchbruch
Mit dem sogenannten Stern-Gerlach-Versuch hatte Otto Stern Vorstellungen der klassischen Physik über den Haufen geworfen. Der Versuch sollte die Gültigkeit des Atommodells von Niels Bohr experimentell zeigen, eines Atommodells, das erstmals Elemente der Quantenmechanik enthielt. Stern entwickelte dafür eine Messmethode, die bis heute angewandt wird: die sogenannte Molekularstrahlmethode. Mithilfe des Versuchs konnte er zeigen, dass sich ein Strahl von Silberatomen in einem Magnetfeld in zwei Teilstrahlen aufspaltet. Die eigentliche Bedeutung dieses Ergebnisses wurde erst später deutlich: Stern hatte die sogenannte Richtungsquantelung des Spins entdeckt.
„Otto Stern galt als ein Wissenschaftler, der theoretische und experimentelle Forschung auf besondere Weise verbinden konnte“, sagt Prof. Dr. Rainer Nicolaysen, Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität Hamburg. „Als er 1923 nach Hamburg kam, schuf er sich ein Institut nach Maß. Er richtete Labor und Werkstatt ganz für die Molekularphysik ein und entwarf ein großes wissenschaftliches Programm für die kommenden Jahre.“ Dabei gelang ihm eine weitere richtungweisende Entdeckung: die direkte Messung des magnetischen Moments des Wasserstoffatomkerns, des Protons. Dieses Moment erwies sich als deutlich größer als theoretisch vorhergesagt.
Sterns wissenschaftliches Interesse galt seit seinem Studium dem Verständnis der Atome. Er arbeitete eng mit den Begründern der Quantenphysik zusammen: 1912, mit nur 24 Jahren, wurde er Assistent von Albert Einstein, zuerst in Prag, später in Zürich. Nach dem Ersten Weltkrieg forschte und publizierte er gemeinsam mit Max Born an der Universität Frankfurt am Main. In Hamburg umgab er sich mit Wissenschaftlern, die wie er selbst später berühmt geworden sind. „Sterns Institut wurde zum Anziehungspunkt für junge in- und ausländische Gastforscher wie die späteren US-amerikanischen Physiknobelpreisträger Isidor Isaac Rabi und Emilio Segrè“, so Nicolaysen. Eng habe Stern auch mit seinem Kollegen aus der Theoretischen Physik, dem späteren Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, kooperiert. „Von Sterns Schülern erhielt Hans Jensen später ebenfalls den Nobelpreis. Die Hamburger Physik erreichte damals Weltniveau“, erklärt Nicolaysen.
Alles änderte sich 1933
Die Nationalsozialisten beendeten diese fruchtbare Schaffensperiode. „Wie an anderen deutschen Universitäten wurden auch in Hamburg die ‚nicht-arischen‘ und ‚politisch unerwünschten‘ Professoren aufgrund des Gesetzes zur ‚Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ vom 7. April 1933 entlassen. In Hamburg betraf das mehr als ein Fünftel des Lehrkörpers. Sterns Institut für Physikalische Chemie zählte zu jenen Seminaren, die von einem wahren Kahlschlag betroffen waren“, erklärt Historiker Nicolaysen. Dem Rausschmiss aufgrund seines jüdischen Glaubens kam Stern zuvor: Am 30. Juni bat er per Telegramm um seine Entlassung. In einem ergänzenden Brief schrieb er, er sehe sich „durch die Ereignisse der letzten Zeit zu diesem für mich äußerst schmerzhaften Schritt genötigt“.
In den USA erhielt er am renommierten Carnegie Institute of Technology eine auf ihn zugeschnittene Professur. Doch als ihm 1943 der Nobelpreis zugesprochen wurde, berief sich das Nobelkomitee auf seine Forschungsarbeiten in Deutschland: Sterns Beiträge zur Erfindung der Molekularstrahlmethode und die Entdeckung des magnetischen Moments des Protons. Kriegsbedingt wurde der Preis erst im Dezember 1944 überreicht, im Waldorf Astoria Hotel in New York.
Zu diesem Zeitpunkt war Otto Stern bereits amerikanischer Staatsbürger. Er half anderen emigrierten Wissenschaftlern, war im „German Scientist Relief Fund“ tätig und gab sogar einen Teil seines Nobelpreisgeldes an ehemalige Mitarbeiter weiter. Nach Kriegsende korrespondierte er wieder mit deutschen Freunden, schickte Geld, Nahrungsmittel und Kleidung. Doch obwohl er fast jedes Jahr nach Zürich reiste und Konferenzen nutzte, um ehemalige Kollegen zu treffen, mied er deutschen Boden. Der Mann, der stets als äußerst umgänglich und humorvoll beschrieben wurde, kehrte nie nach Hamburg zurück. Er starb 1969 in Berkeley (Kalifornien) im Alter von 81 Jahren.
Seit 1988 erinnert eine Plakette an seiner ehemaligen Wirkungsstätte an ihn, im Physikalischen Institut in der Jungiusstraße. Im selben Gebäude ist auch ein Hörsaal nach ihm benannt.
Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen, die in den Foyers der Uni-Gebäude und dem Unikontor sowie den Mensen und Bibliotheken erhältlich ist.