Die Macht der MusikSechs Forschungsperspektiven
15. Oktober 2019, von Anna Priebe, Tim Schreiber
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Musik ist ein Medium voller Bedeutung, wir können sie hören oder selber machen – und sie kann sogar heilen. Sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hamburg berichten, welche Aspekte der Musik sie erforschen.
Klangwelten zum Wohle der Patientinnen und Patienten
Prof. Dr. Sebastian Debus, Direktor der Klinik für Gefäßmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Musik hat großen Einfluss auf Patientinnen und Patienten, kann deren Wohlbefinden stärken und sogar Schmerzen lindern. Wir beschäftigen uns schon seit zehn Jahren mit dem Bereich ‚Musik, Mensch, Medizin‘. Wir konnten zum Beispiel nachweisen, dass Menschen mit Durchblutungsstörungen der Beine weniger Schmerzmittel brauchen, wenn sie beim Gehen ihre Lieblingsmusik hören. Im Rahmen des Projekts ‚Healing Soundscape‘ untersuchen wir gerade den Einfluss von Klängen auf Patienten, die beispielsweise in Wartezimmern sitzen oder auf ihre Operationen warten. Dafür haben wir Boxen installieren und eigene Kompositionen erstellen lassen. Die Wirkung untersuchen wir anhand von Befragungen. Die Herausforderung ist, dass in Wartezimmern mehrere Menschen sitzen und Musikgeschmack sehr individuell ist. Daher probieren wir es mit dezenten Klangwelten und mit Naturklängen wie Wind, Wasser oder Schilf. Zudem testen wir unterschiedliche Klänge für Warteräume, Aufwachzimmer oder auch Operationssäle. Unser Ziel ist es, in den Räumen des gerade neu entstehenden Herz- und Gefäßzentrums Musik fest zu installieren. Weil ich eine Leidenschaft für Musik habe, unterstütze ich zudem Aktivitäten, am UKE eine Sprechstunde speziell für Musikerinnen und Musiker anzubieten. Dort können typische Krankheiten wie Gelenk- und Wirbelsäulenbeschwerden oder Muskelverspannungen behandelt werden. Die Projekte entstehen in enger Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Mittelalter trifft Musik der 1970er-Jahre
Prof. Dr. Irene Holzer, Juniorprofessorin für Historische Musikwissenschaft
Ich beschäftige mich in meinem aktuellen Forschungsprojekt mit der Hamburger Band „Ougenweide“, die in den 1970er-Jahren sehr populär war und allein in diesem Jahrzehnt zehn Alben veröffentlichte. Sie nahm in ihrer Musik stark auf das Mittelalter Bezug, wobei es sich um eine sehr weite Interpretation des Begriffs handelt. Die Band hat zum einen Texte von Walther von der Vogelweide neu vertont, aber auch in dem Stil selber gedichtet. Inhaltlich gingen ihre Lieder immer klar in eine sozialkritische Richtung. Zum anderen vertonte die Band ihre Texte zunehmend auf Basis von modalen Skalen, das heißt, nicht nur in den typischen Dur- und Moll-Tonleitern. Damit hat die Band einen großen Hype ausgelöst, der sich bis in die heutige Zeit zieht. Alles was mit dem Mittelalter oder einer ähnlichen fiktiven Fantasy-Epoche zu tun, etwa Game of Thrones, arbeitet heute musikalisch mit diesen modalen Anklängen. Neben den Liedern beziehe ich auch andere Medien mit ein, zum Beispiel Zeitschriften, Flugblätter sowie die Liederbücher, die die Band herausgegeben hat. Für mich stehen die 1970er-Jahre im Vordergrund: Es geht um die Suche nach Identität, die nach 1968 nicht nationalistisch begründet sein kann. Das fiktive Mittelalter bietet da eine Möglichkeit. Gleichzeitig trifft diese Sicht auf linksliberale Sozialkritik und daraus ergibt sich ein interessantes Spannungsfeld.
Bereits die Hälfte der Deutschen streamt Musik
Michael Kandziora, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Betriebswirtschaft
Im Auftrag von musikwirtschaftlichen Verbänden und Institutionen untersuchen wir die Zukunft der Musiknutzung. Dafür lassen wir drei Jahre lang alle sechs Monate bis zu 5.140 Menschen im Alter von 16 bis 70 Jahren einen umfangreichen Online-Fragebogen ausfüllen. Zu den ersten Ergebnissen gehörte, dass jeder und jede im Schnitt jeden Tag drei Stunden Musik hört und dass das Radio sowie physische Tonträger zwar noch beliebt sind, aber mittlerweile die Hälfte der Befragten Musik streamt. Mit der zweiten Befragungswelle konnten wir erste Veränderungen in der Nutzung feststellen: So haben Smartspeaker innerhalb von sechs Monaten spürbar an Beliebtheit zugelegt und Musik wird immer häufiger auf mobilen Endgeräten und seltener auf der heimischen Stereoanlage gehört. Außerdem sind die Menschen offenbar immer öfter bereit, für das Streaming zu zahlen, denn die Nutzung von kostenlosem Streaming hat um acht Prozent abgenommen und die kostenpflichtigen Abos haben um zwei Prozent zugenommen. Es geht in der Studie aber nicht nur um die Musiknutzung, sondern auch um Lieblingsgenres oder darum, wie oft die Menschen selbst Musik machen. Was zum Beispiel den Musikgeschmack angeht, können wir derzeit noch keine Veränderungen feststellen. Wir gehen aber von Verschiebungen aus und sind schon gespannt, wie sich die Präferenzen nach drei Jahren verändert haben.
Die Musikgeschwindigkeit beeinflusst unsere Zeitwahrnehmung
David Hammerschmidt, Doktorand am Institut für Systematische Musikwissenschaft
Studien haben gezeigt: Wenn Menschen Musik hören, die sie mögen, haben sie das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht als bei Musik, die ihnen nicht gut gefällt. Ich untersuche in meiner Forschung, welche Elemente in der Musik unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen und wie sie das tun. Dazu spiele ich Probanden ein Stück vor und lasse sie hinterher einschätzen, wie lange es gedauert hat. Ich nehme dafür in der Regel eine Eigenkomposition, damit ich die einzelnen Parameter ganz genau kontrollieren kann, etwa die Melodie oder einzelne Instrumente. Bei den Untersuchungen kam unter anderem heraus, dass das Tempo ein wesentlicher Faktor ist: Je schneller ein Musikstück war, desto länger kam es den Probanden im Vergleich zu langsamen Stücken vor. Das kann man damit erklären, dass die Informationsdichte in diesem Zeitraum höher ist. Interessanterweise gab es bei der Wahrnehmung keine Unterschiede zwischen Probanden, die eine musikalische Vorbildung hatten und denen ohne Musikkenntnisse. Meine Forschung ist Teil des Projektes ‚SloMo‘, das vom Europäischen Forschungsrat gefördert wird. Wir schauen auf Slow Motion als Technik in Film und Musik, wenden aber den Begriff auch direkt auf menschliche Bewegungen an, zum Beispiel im Bereich Performance.
Wie musikdidaktische Zeitschriften den Trend zum Singen begründen
Anne Günster, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Musikpädagogik
Für den Musikunterricht ist seit Anfang der 1990er-Jahre ein zunehmendes Interesse am Singen zu beobachten. Das zeigt sich nicht nur an mehr Angeboten, zum Beispiel in Form von Chorklassen, sondern auch an einer gestiegenen Zahl von Lehrwerken und empirischen Studien zum Singen. Dieser Trend zum Singen spiegelt sich auch in Beiträgen in musikdidaktischen Fachzeitschriften wider. Ich analysiere 130 Artikel aus dem Zeitraum von 1990 bis 2015 im Hinblick darauf, wie begründet wird, warum im Musikunterricht wie gesungen werden sollte. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums geht es vor allem darum, welche Lieder gesungen werden sollten. Ab den 2000er-Jahren steht mehr der Umgang mit der Stimme im Vordergrund, etwa der Zusammenhang von Sing- und Sprechstimme. Ein weitestgehend konstantes Argument ist dagegen: ‚Singen kann jede und jeder, denn die Stimme ist das ursprünglichste Instrument des Menschen.‘ Mich interessiert an diesen Begründungen vor allem, welche Vorstellungen von den Menschen, die Singen lehren und lernen, darin zum Vorschein kommen. In meiner Arbeit geht es darum, zu verstehen, wie diese und andere Begründungsstrategien funktionieren. Ich möchte dazu anregen, das pädagogische Wissen, das hier über das Singen vermittelt wird, kritisch zu hinterfragen und neu zu betrachten.
Von chinesischem Hip-hop bis zu Elektro aus dem Iran
Prof. Dr. Rolf Bader, Professor für Systematische Musikwissenschaft
Man könnte sagen, wir arbeiten an einer Art musikalischem Gedächtnis der Welt. Konkret geht es um eine musikethnologische Datenbank. Der Ausgangspunkt des ‚Ethnographic Sound Recordings Archive‘ (E.S.R.A.) sind Sammlungen afrikanischer Musik der Jahre 1910 bis 1930 aus dem Hamburgischen Kolonialinstitut sowie die einzigartigen – und für Musikwissenschaftler sensationellen – Aufnahmen des Kairoer Kongresses für arabische Musik aus dem Jahr 1932. Diese und viele Tausende weitere Musikstücke aus unterschiedlichen internationalen Studien haben wir digitalisiert und stellen sie online für die Forschung bereit. Weil es sehr viel Material ist, haben wir Verfahren entwickelt, mit deren Hilfe die Musik zum Beispiel auf Tonhöhen oder Klangfarben hin analysiert und sortiert werden kann. Dafür kommen verschiedene Modelle Künstlicher Intelligenz zum Einsatz. Nutzer des Archivs können zudem selbst Stücke oder ganze Sammlungen hochladen, die dann analysiert werden. Auch wir bauen das Archiv ständig aus. Unter anderem sind wir gerade dabei, chinesischen Hip-Hop und elektronische Musik aus dem Iran hinzuzufügen. Wir sind aber auch immer wieder in Sri Lanka, Nepal oder auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs. Das Archiv und die Technik dahinter sind nicht nur für die Wissenschaft interessant: Wir bekommen auch Anfragen von Musikverlagen oder Filmmusikern.
Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen, die in den Foyers der Uni-Gebäude und dem Unikontor sowie den Mensen und Bibliotheken erhältlich ist.