Ein Archiv der PflanzenweltDas Herbarium Hamburgense
14. Oktober 2019, von Anna Priebe
Aktuelle Forschung zu Artenvielfalt und Klimaveränderungen mit bis zu 300 Jahre alten, getrockneten Pflanzen: Möglich ist das im Herbarium Hamburgense. Zu Besuch bei einer der größten wissenschaftlichen Pflanzensammlungen der Welt.
Von 0 auf 650: Das ist die Bilanz der Exkursion von Dr. Matthias Schultz in den Kenai-Nationalpark in Alaska. Die zuständige Behörde wollte die Flechtenarten in dem neuen Schutzgebiet inventarisieren und der Wissenschaftler vom Institut für Pflanzenwissenschaften und Mikrobiologie der Universität Hamburg war als einer von fünf Experten mit dabei. Die Ausbeute steht nun – verpackt in ca. 500 kleinen weißen Papierkapseln, aufgereiht in Kartons – in seinem Büro in Klein Flottbek und wartet darauf, ins Herbarium Hamburgense einsortiert zu werden.
Sammlungsstücke aus dem Jahr 1700
Ein Herbarium ist eine Sammlung getrockneter und präparierter Pflanzen. Das Hamburger Herbarium, dessen Wissenschaftlicher Leiter Matthias Schultz ist, gibt es bereits seit 1883 und umfasst heute mehr als 1,8 Millionen Pflanzenbelege – insbesondere aus Hamburg, aber auch Deutschland und der ganzen Welt. 40.000 davon sind sogenannte Typusbelege, an denen eine Art erstmals beschrieben wurde. Es ist damit eine der 30 größten wissenschaftlichen Pflanzensammlungen weltweit, wobei das älteste Stück auf das Jahr 1700 zurückgeht: Ein Rötegewächs von der Insel Kreta, gesammelt auf einer Expedition im Auftrag des französischen Königs Ludwig XIV.
Heute wie damals werden die Pflanzen direkt an ihrem Fundort in Pflanzenpressen gelegt und getrocknet. Sukkulenten und fleischige Pflanzen müssen speziell bearbeitet und mitunter in Scheiben geschnitten werden. Kleine Teile werden in Papierkapseln verwahrt, Palmenblätter gefaltet.
„Wir trocknen die Pflanzen hier eventuell nochmal nach und präparieren sie auf den Papierbogen“, so Schultz. Vermerkt werden nach festen Vorgaben unter anderem Eigenschaften der Pflanze, etwa die Blütenfarbe, sowie die Sammelkoordinaten und der Sammelzeitpunkt. „Von Belegen, die nicht so einfach zu bestimmen sind, wird zudem eine DNA-Analyse gemacht“, erklärt Schultz. Die Sequenzen werden schließlich in einschlägigen Datenbanken hinterlegt. So auch bei den Funden aus Alaska, die darüber hinaus mikroskopisch untersucht wurden.
Referenzsammlung für die Wissenschaft
Geordnet ist das Herbarium nach der Systematik der Pflanzen, die nicht nur sogenannte Höhere Pflanzen umfasst, sondern auch Flechten, Pilze, Moose und Algen. Mehr als 27.000 Kästen mit Pflanzenbögen befinden sich im Magazin des Herbariums, das speziell belüftet wird, um die Präparate zu schützen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen sie als Referenzsammlung, um zum Beispiel Pflanzen zu bestimmen und Arten unter anderem anhand der Größenverhältnisse, der Blattstruktur und der Blüten voneinander abzugrenzen.
„Das Herbarium bietet eine besondere Forschungsinfrastruktur. Unsere Hauptaufgabe ist die Verfügbarmachung von Untersuchungsmaterial“, betont Schultz. Im Herbarium besteht daher nicht nur die Möglichkeit, die Pflanzen vor Ort zu untersuchen, sondern auch Bögen auszuleihen. Insbesondere die Typusbelege sorgen im Bereich der Evolutionsforschung für einen regen internationalen Austausch. Über verschiedene Datenbanken sind im Moment rund 40.000 Belege auch online abrufbar. Während die Herbarbögen im Studium durch den Einsatz digitaler Medien immer weniger genutzt werden, sind sie aber für Abschlussarbeiten im Bereich der systematischen Botanik immer noch sehr gefragt.
Das Herbarium stellt ein Archiv der weltweiten Flora über mehrere Jahrhunderte dar. „Früher hat man unfassbar viel gesammelt, um die Pflanzen und ihr Vorkommen zu dokumentieren“, so Schultz. Die Botanikerin Amalie Dietrich (1821–1891) sammelte beispielsweise in den 1860er-Jahren im australischen Queensland zahlreiche Pflanzen für das Hamburger Museum Godeffroy. Diese Belege befinden sich heute im Herbarium. „Das ist ein Abbild der damaligen Pflanzenwelt, die vom Menschen noch vollkommen unbeeinflusst war“, erklärt Schultz. Viele der Gewächse sind inzwischen ausgestorben.
Ein Abbild der Pflanzenwelt ohne menschlichen Einfluss
Die Sammlung bietet damit die Möglichkeit, Artenvielfalt und vor allem ihre Veränderung nachzuvollziehen. Dazu forscht auch die Arbeitsgruppe „Biodiversität der Pflanzen“ von
Prof. Dr. Norbert Jürgens, dem Direktor des Herbariums. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind vor allem im südlichen Afrika aktiv und untersuchen, wie sich insbesondere die Landnutzung auf die Pflanzenvielfalt auswirkt. Sie können anhand des Herbariums nicht nur gefundene Arten genau bestimmen. Durch die Informationen zum Sammlungsort können sie zudem sehen, ob sich das Verbreitungsgebiet einer Pflanze verändert hat. Der Sammlungszeitpunkt kann Aufschluss darüber geben, ob sich der Blühzeitraum der Pflanze in den Jahrzehnten verändert hat.
„Das Herbarium wächst ständig und wird heute vor allem durch aktuelle Forschungsarbeiten erweitert. Es wird viel gezielter gesammelt“, berichtet Schultz. Seit Einrichtung des Herbariums sind eine weitere Quelle Sammlungen von Botanikerinnen und Botanikern, die sich oft ihr ganzes Leben mit einer bestimmten Pflanzenfamilie befasst haben. So hat der Doktorvater von Matthias Schultz, der nun in den Ruhestand geht, ebenfalls zu Flechten geforscht. Seine 80 Kisten umfassende Sammlung ist aus Kaiserslautern nach Hamburg gekommen. Sie lagert momentan noch separat, wartet aber wie die 500 Belege aus Alaska darauf, ihren Weg in die Regale des Hamburger Herbariums zu finden.
Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen, die in den Foyers der Uni-Gebäude und dem Unikontor sowie den Mensen und Bibliotheken erhältlich ist.