Serie „Namenspatenschaft“ – Anna SiemsenEuropäerin der ersten Stunde
14. September 2018, von Sarah Batelka
Foto: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung
Edmund-Siemers-Allee, Anna-Siemsen-Hörsaal oder Von-Melle-Park: Gebäude und Straßen erzählen mit ihren Namen Geschichten, die eng mit der Universität Hamburg verbunden sind. 19NEUNZEHN stellt in einer Serie die Personen hinter diesen Namen vor. Diesmal: Anna Siemsen
1948 – zwei Jahre, nachdem Anna Siemsen aus ihrem Schweizer Exil, in das sie vor den Nationalsozialisten geflohen war, nach Hamburg gekommen ist – hat sie genug. Enttäuscht schreibt sie im Juni an ihren Bruder Hans:
„Ich bin […] wieder in Hamburg, arbeite aber nur für mich, weil ich, bevor ich die Arbeit hier wieder aufnehme, zunächst in meiner Beamteneigenschaft wieder hergestellt sein will. Das scheint aber allerlei Schwierigkeiten zu machen. […] Angenehm ist dieser Zustand nicht. Aber er entspricht den deutschen Verhältnissen. Ich hoffe jedenfalls mich über Wasser zu halten.“
Seit ihrer Rückkehr streitet sich Siemsen mit Hamburger Senat und Schulrat. Es geht um nicht weniger als eine vom damaligen Hamburger Schul- und Hochschulsenator Heinrich Landahl in einem Brief zugesagte Anstellung an der Universität Hamburg, um Siemsens Pensionsansprüche aus ihrer Zeit als Oberschulrätin und Honorarprofessorin in Jena während der Weimarer Republik und um Wiedergutmachung ihrer Vertreibung aus Deutschland durch die Nationalsozialisten.
Für die 66-jährige Anna Siemsen steht 1948 nicht nur ihr akademisches Lebenswerk auf dem Spiel; sie ist nach 13 Exil-Jahren wieder in Deutschland, um der jungen Bundesrepublik beim Aufbau der Lehrerausbildung und eines demokratischen Bildungswesens zu helfen. „Mein entscheidender Entschluss ist jetzt in Deutschland zu arbeiten, das ich als den gefährdetsten und entscheidendsten Ort in Europa ansehe“, schreibt sie 1946 an Landahl. Für Hamburg hat sie sich bewusst entschieden, denn dort lebte ihre Schwester mit deren Mann und die Volksschullehrerinnen und -lehrer wurden in einem Universitätsstudium ausgebildet. Ein finanziell attraktiveres Angebot aus Düsseldorf hatte sie ausgeschlagen.
Von der Universität als Professorin abgelehnt
Allerdings hat in Hamburg niemand auf die linksdemokratische Exilantin gewartet. Obwohl die Nordwestdeutsche Hochschulkonferenz 1945 beschlossen hatte, verdrängte und ausgewanderte Universitätsangehörige wieder an den Hochschulen einzusetzen, führt die Stadt verschiedene Gründe an, die gegen eine Professur für Siemsen sprechen: die angespannte Finanzlage, ihr hohes Alter oder ihre Schweizer Staatsbürgerschaft – die Folge einer politischen Zweckheirat mit dem Schweizer Walter Vollenweider.
Auch die Universität Hamburg lehnt Anna Siemsen als Professorin ab. „Als Vertreterin einer sozialistischen Erziehungswissenschaft passte sie nicht in die damals vorherrschende erziehungswissenschaftliche Richtung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, erklärt Bildungswissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Mayer. In einem Gutachten der Germanistischen Abteilung der Philosophischen Fakultät wird der ehemaligen Professorin die wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen. „Dabei gilt sie als eine Pionierin ihres Fachgebietes“, erläutert Mayer.
„Eine Pazifistin und Sozialistin“
1882 als zweites von fünf Kindern in eine Pfarrersfamilie geboren, gehörte sie zu den ersten Frauen in Deutschland, die studieren und promovieren durften. 1919 trat sie in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein und wechselte 1922 in die SPD. „Der Erste Weltkrieg prägte sie nachhaltig und machte aus ihr eine Pazifistin und Sozialistin“, so Mayer.
Neben ihren Stellen als Oberschulrätin in Berlin (ab 1922) und in Jena (ab 1923) widmete sie sich der politischen Partei-, Gremien- und Vereinsarbeit. 1928 zog sie für die SPD in den Reichstag ein. 1932 drohten ihr die Nationalsozialisten mit dem Entzug der Lehrberechtigung, da sie sich als Einzige aus der Professorenschaft mit dem Heidelberger Mathematik-Professor Emil Gumbel solidarisiert hatte, der aus politischen Gründen entlassen worden war. Ein Jahr später emigrierte sie in die Schweiz, wo sie sich an der antifaschistischen Arbeit und an bildungspolitischen Vorbereitungen für die Nachkriegszeit in Deutschland beteiligte.
1948 gelingt es ihr schließlich, eine kleine Pension zu erkämpfen. Zusätzlich leitet sie zwei Sonderkurse zur Ausbildung von Volksschullehrerinnen und -lehrern und hat einen Lehrauftrag für Europäische Literatur, der vermutlich im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens stattfand und nicht innerhalb der Philosophischen Fakultät. Auch ohne reguläre Stelle an der Universität setzt sie sich weiterhin – wie bereits in der Weimarer Republik und während der Zeit des Nationalsozialismus – für ihre Herzensangelegenheiten ein: die Gestaltung eines demokratischen Schulwesens und die europäische Völkerverständigung, wobei beides für sie miteinander verknüpft ist. Eine europäische Gemeinschaft kann es in ihren Augen nicht ohne ein entsprechendes Bewusstsein geben. Die Lösung liegt für sie in der „Selbsterziehung des Einzelnen zur freien Verantwortung“ in einer Einheitsschule und nicht in einem gegliederten Schulsystem, das das „gegenseitige Kennen- und Verstehen-lernen [sic!]“ verhindert.
Ihr Engagement macht sie in ihrer Zeit über die Pädagogik und Bildungspolitik hinaus bekannt: Bereits 1929 rezensierte der Schriftsteller Kurt Tucholsky ihr Buch „Daheim in Europa“ und schrieb: „[Ei]ne gebildete, gütige Frau geht durch Europa, wo sie wirklich zu Hause ist, soweit einer da zu Hause sein kann, wo er nicht geboren ist – und das allerschönste daran: wie die albernen Grenzen fortfallen. […] Ja, wenn sie alle so wären wie diese seltene Frau […]!“
Hörsaal nach ihr benannt
Anna Siemsen stirbt am 22. Januar 1951 in Hamburg. Nach ihrem Tod wird sie in der Wissenschaft weitgehend vergessen: Kaum eine ihrer Schriften – 27 Bücher und mehr als 500 Beiträge und Artikel – wird wieder aufgelegt. Dennoch wird ihr Wirken weiter geschätzt: So gibt es etwa Anna-Siemsen-Schulen in Hannover und Herford und insgesamt sieben Straßen sind in Deutschland nach ihr benannt. An der Universität Hamburg gibt es einen Anna-Siemsen-Hörsaal. Am 26. Oktober 2005 fand die Benennung des großen Hörsaals der Fakultät für Erziehungswissenschaft im Rahmen eines Fakultätsfestes statt.