Heimatverlust in Wort, Bild und Ton
5. April 2018, von Ellen Schonter
Foto: pixabay/jplenio-UHH/Schöttmer
Wenn Menschen ihre Heimat verlassen müssen, etwa um vor Krieg und Gewalt zu flüchten, um wirtschaftlicher Not zu entkommen oder weil sie politisch gezwungen werden, wiegt der Verlust schwer. Medien können den Betroffenen dabei helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Fünf Forscherinnen und Forscher der Universität Hamburg untersuchen, welche Ausdrucksformen es gibt und wie diese den Menschen helfen.
Literatur: Erzählungen der Retornados in Portugal
Prof. Dr. Martin Neumann, Professor für französische und portugiesische Literaturwissenschaft
„In den vergangenen zehn Jahren erleben wir in Portugal die literarische Verarbeitung eines Traumas. Im Zuge der Nelkenrevolution 1974 wurde in Portugal das diktatorische Regime abgesetzt und die letzten afrikanischen Kolonien wie z. B. Angola und Mosambik erlangten ihre Unabhängigkeit. Als Folge verließen die portugiesischen Siedler teilweise fluchtartig diese Länder, denn als ehemaligen Kolonisten drohten ihnen Repressalien. Willkommen waren sie in ihrer alten Heimat aber nicht, denn Portugal war auf die fast 600.000 Rückkehrer, die ‚Retornados‘, wirtschaftlich nicht vorbereitet. Nun erscheinen die ersten autobiografisch geprägten Romane, die diese Flucht thematisieren – geschrieben von den Kindern der Retornados. Ich untersuche, wie die Erzählungen das Thema behandeln: Ein Roman etwa beschreibt dramatische Szenen der Flucht und die Bedrohung durch Waffengewalt, ein anderer trauert sehnsüchtig der Kolonialzeit hinterher. Das Besondere ist, dass einige Autoren in ihren Texten den Rassismus der eigenen Eltern anprangern – mal auf humoristisch-subtile Weise wie Isabela Figueiredo, mal recht offen und direkt wie Dulce Maria Cardoso. Gemeinsam ist den Romanen, dass sie nicht nur der persönlichen Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses dienen, sondern auf die gesellschaftliche Aufarbeitung des Themas abzielen – damit brechen sie ein langjähriges Tabu.“
Film: Migration im deutsch-türkischen und türkischen Film
Prof. Dr. Ortrud Gutjahr, Leiterin der Arbeitsstelle Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft
„Mit rund drei Millionen Menschen ist die aus der Türkei stammende Bevölkerungsgruppe die größte Minderheit in Deutschland. Das Erzählen von ihrer Zuwanderung steht paradigmatisch für den Aufbau einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Das Medium Film erreicht dabei besonders breite Bevölkerungsteile, daher untersuche ich anhand einer Auswahl von rund 1.000 Kino- und Fernsehproduktionen, welche Narrative sich gebildet haben. Die türkische Arbeitsmigration infolge des Anwerbeabkommens von 1961 wurde zunächst vor allem in Dokumentationen thematisiert. Bei Spielfilmen dominierten ab 1970 Sozialdramen, die implizit anklagten, dass ‚die Gastarbeiter‘ nicht integriert sind. Mitte der 1980er-Jahre begann die filmische Innensicht auf migrantisches Leben, doch erst der preisgekrönte Film ‚Gegen die Wand‘ (2004) von Fatih Akin rückte Deutschland international als Einwanderungsland in den Fokus. Seitdem erscheinen Komödien, die Konflikte humorvoll behandeln und Stereotype ironisch wenden, die sich Türken über Deutsche gebildet haben und umgekehrt – wie im Film ‚Almanya – Willkommen in Deutschland‘ (2011). Solche augenzwinkernden Filmnarrative sind besonders geeignet, Migration als ‚geteilte Erfahrung‘ zu vermitteln: Sie regen dazu an, sich in andere hineinzuversetzen.“
Graphic Novels: „The Arrival“ von Shaun Tan
Prof. Dr. Astrid Böger, Professorin für Amerikanistik
„Um Traumata wie Fluchterfahrungen zu verarbeiten, werden Graphic Novels und ihre Möglichkeiten der Visualisierungen von Künstlern und Lesern gleichermaßen als sehr bereichernd empfunden. Dabei stellt sich die Frage: Gibt es eine universelle Erfahrung von Migration und wie kann man sie darstellen? Oft wird auf die Graphic Novel ‚The Arrival‘ des Australiers Shaun Tan als Beispiel verwiesen. Die Geschichte erzählt von einem Vater, der ins Ausland emigriert und seine Familie nachholt – und zeigt damit ein breites Spektrum an Fluchterfahrungen. Dazu kommt: Zwar wollen die meisten Graphic Novels allgemein verständlich sein, aber ‚The Arrival‘ kommt komplett ohne Sprache aus. Das Gefühl der Fremdheit vermittelt Tan vielmehr durch eine Kombination aus fotorealistischen Zeichnungen und Fantasy-Elementen: Manche Szenen erinnern an vertraute Motive wie die Skyline von New York, werden aber zum Beispiel durch unbekannte Fantasie-Tiere verfremdet. Meine Forschung hat auch gezeigt, dass Shaun Tan das Mittel der visuellen Assoziation verwendet: Ein Objekt taucht in der Erzählung mehrfach auf und wird dadurch mit immer mehr Bedeutung aufgeladen. Für das Verständnis braucht man vor allem Emotionen – das befördert ein empathisches Lesen. Graphic Novels können so zu Verständigungs- oder auch Heilungsprozessen beitragen.“
Radio: Flucht und Vertreibung in deutschen Hörfunkprogrammen 1945–1961
Dr. Alina Tiews, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Mediengeschichte des Instituts für Medien und Kommunikation
„Am Ende und in der Folge des Zweiten Weltkriegs verließen rund 14 Millionen Deutsche ihre Siedlungsgebiete im östlichen Europa und den östlichen Teilen des damaligen Deutschen Reichs – entweder flüchteten sie vor der Front, wurden nach Kriegsende von Milizen vertrieben oder nach dem Potsdamer Abkommen zwangsumgesiedelt. Etwa 12 Millionen von ihnen kamen im geteilten Nachkriegsdeutschland an – und der Kulturschock war groß. Ich untersuche, wie der damalige Rundfunk diese Situation thematisierte. Bei den Sendungen zwischen 1945 und 1961 lassen sich drei Schwerpunkte erkennen: zum einen die Ankunft der Flüchtlinge, etwa mit Berichten aus Flüchtlingslagern. Andere Sendungen, vor allem westdeutsche, erinnerten mit Texten, Liedern oder Länderberichten an die alte Heimat der Flüchtlinge und Vertriebenen. Sehr wenige Sendungen behandelten die Gewalterfahrungen bei Flucht und Vertreibung – sie öffentlich zu diskutieren, war offenbar nicht konsensfähig. Die westdeutschen öffentlich-rechtlichen Sender mussten sowohl Flüchtlinge als auch die aufnehmende Gesellschaft ansprechen; dabei war die akustische Eigenheit des Mediums Radio wichtig: Sendungen wechselten zwischen den Dialekten von Vertriebenen und dem Hochdeutschen – und wurden so zum Kultur- und Sprachtrainer für beide Seiten. Das konnte damals kein anderes Medium so gut leisten.“
Musik: Exilkompositionen aus der NS-Zeit
Prof. Dr. Friedrich Geiger, Leiter des Instituts für Historische Musikwissenschaft
„Während des Nationalsozialismus flohen viele Musikerinnen und Musiker aus Deutschland und den besetzten Ländern. Es entstand ein umfangreiches Repertoire an Exilkompositionen, womit gemeint ist: Flucht und Exil haben Spuren in den Musikstücken hinterlassen. Das kann auf offensichtliche Weise passieren, wenn in Texten oder Handlungen die NS-Zeit benannt wird, aber auch durch Akkulturation, also die Anpassung der eigenen Musik an die Kultur des Exillandes. Ein typisches Phänomen von Exilmusik ist die Klage um den Verlust der Heimat, die in Genres wie der Elegie oder der Trauermusik zum Ausdruck kommt. Die Forschung zeigt beispielsweise auch: Manche Komponisten zitieren Musik von Johann Sebastian Bach, um Deutschland als Musiknation statt NS-Diktatur zu betonen. Typische Exilstücke können auch Protestwerke sein: Béla Bartók illustriert im ‚Konzert für Orchester‘ zunächst Schlachtenlärm, bevor eine Fanfare an George Gershwins ‚An American in Paris‘ erinnert – ein Ausdruck der Hoffnung, dass die USA im besetzten Paris einmarschieren mögen. Mit kompositorischen Mitteln lassen sich also klare Botschaften senden und Musik hat als Kunstform die Kraft, ohne Sprache und sehr unmittelbar Emotionen wie Verzweiflung darzustellen, aber auch Widerstand zu mobilisieren.“
Theater: Exilstück „Jacobowsky und der Oberst“ zur NS-Zeit
Prof. Dr. Doerte Bischoff, Leiterin der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur
„Mindestens 1.000 Theaterkünstlerinnen und -künstler flüchteten während der NS-Zeit zunächst in europäische Länder und von dort aus in die USA. Besonders interessant für die Forschung werden Theaterstücke dadurch, dass sie oft schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren können als etwa Bücher, die erst publiziert werden müssen. Zum Beispiel behandelt das Stück ‚Jacobowsky und der Oberst‘, das der jüdische Schriftsteller Franz Werfel (1890–1945) im US-Exil schrieb, bereits Anfang der 1940er-Jahre eine Odyssee von Flucht und Neuanfang. Das Theater im Exil verfolgt dabei häufig zwei Absichten: die alte, vom Nationalsozialismus bedrohte Kultur des Heimatlandes zu bewahren und gegen den Faschismus Position zu beziehen. Auch ‚Jacobowsky und der Oberst‘ tut dies – aber auf besondere Weise. Im Stück flüchten zwei gegensätzliche Figuren vor den Nationalsozialisten: Jacobowsky, ein Jude, der aus seiner Heimat Polen und anderen Ländern vertrieben wurde, und Oberst Stjerbinsky, ein glühend nationalistischer und antisemitischer Pole. So macht Werfel deutlich, dass es innerhalb der Flüchtenden verschiedene Gruppen und Selbstverständnisse gibt. Die Inszenierungsgeschichte des Stücks zeigt auch: Theater kann Transnationalität zum Beispiel darin ausdrücken, dass die jeweilige Herkunft der Mitspielenden sichtbar bleibt.“
Der Text ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen, die seit April in den Foyers der Uni-Gebäude und dem Unikontor sowie den Mensen und Bibliotheken erhältlich ist.