500 Jahre Reformation, 4 Blickwinkel
31. Oktober 2017, von Ellen Schonter
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Ob Ofenkacheln, Kanzeln oder Notenblätter: Auch nach 500 Jahren findet man überall zahlreiche Spuren von Martin Luthers Wirken. Das bedeutet reichlich Material für die Forschung: Anlässlich des Reformationsjahres zeigen vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre besonderen Blickwinkel auf das Thema.
Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Evangelische Theologie:
„Zu meinen Forschungsgebieten gehören Martin Luthers Theologie, Bibelauslegung und Spiritualität sowie deren Rezeption in der Frühen Neuzeit. Mein besonderes Augenmerk gilt der fächerübergreifenden Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen der Literaturwissenschaft, der Kunst- und Musikgeschichte sowie der Geschichtswissenschaft. Zurzeit beschäftige ich mich intensiv mit Sichtbarmachungen reformatorischer Impulse in der sakralen Kunst – an Altären, Orgeln, Grabmälern in Kirchenräumen, aber z. B. auch in der Druckgrafik. Besonders aufschlussreich ist hier das intermediale Zusammenspiel von Inschriften und Bildmotiven.
Ein Beispiel: Die prächtige, 1574 fertiggestellte Kanzel in der Marienkirche in Rostock sowie ihr 1723 geschaffener Schalldeckel verfügen über ein reichhaltiges Bild- und Inschriftenprogramm. Die Kanzel vergegenwärtigt die gesamte Heilsgeschichte – angefangen beim Sündenfall Adams und Evas bis hin zum Jüngsten Gericht und zum ewigen Leben im himmlischen Jerusalem. Wenn man die Bildmotive und Inschriften in ihren kunst- und theologiegeschichtlichen Kontexten betrachtet, wird deutlich: Die Kanzel dient nicht nur als überdimensioniertes Rednerpult, sondern sie predigt selbst. Und sie darf den Anspruch erheben, ein visuelles Kompendium des christlichen Glaubens in reformatorischer Perspektive zu sein. Das zeigen nicht nur die Zitate aus der Luther-Bibel, sondern auch die Bildmotive: Allein in Jesus Christus finden die sündigen Menschen Rettung. Für die Bebilderung der Kanzel wurden freilich auch Bildvorlagen aus dem katholischen Antwerpen verwendet – ein spannendes Beispiel für die Interkonfessionalität im Reformationsjahrhundert.“
Prof. Dr. Margit Kern, Kunstgeschichte:
„Gibt es ‚lutherische‘ oder ‚protestantische‘ Bilder? Kann sich ein Bild überhaupt zu einer Konfession bekennen und wie erkennen wir das? Diese Fragen versuche ich mit meiner Forschung zu beantworten.
Die Reformation entwickelte eine eigene Bildsprache, um ihr konfessionelles Selbstverständnis zu verbreiten und sich abzugrenzen. Dabei griffen die Künstler bestehende Traditionen auf und verfremdeten sie auf kreative Weise: Die bisher fürsorgliche Tugend der Nächstenliebe, Caritas, wird zur scheltenden Mutter, die ihr Kind für den Griff in die Geldkiste rügt – eine Darstellung der protestantischen Tugendlehre, die vor dem Schielen auf himmlischen Lohn warnt und eine Tätigkeit aus reinem Herzen fordert. Das bekannteste Bild der Reformationskunst ist Lucas Cranachs ‚Allegorie auf Gesetz und Gnade‘. Es stellt dem strafenden Gott den gnädigen Gott entgegen. Das Problem: Bei der Entstehung des Bildes sind keine Einflüsse Luthers belegbar; das Motiv scheint sogar aus vorreformatorischer Zeit zu stammen. Was also macht die ‚protestantische Identität‘ des Bildes aus? Meine These: Ein Artefakt gehört nicht von sich aus zu einer Konfession, diese Zugehörigkeit wird erst konstruiert und ist wandelbar. Ich finde es spannend, wie religiöse Umbrüche mit Bildern bewältigt wurden und wie wirkmächtig Bilder sind.“
Prof. Dr. Ivana Rentsch, Musikwissenschaft:
„Thomas Selle war der einflussreichste Komponist Hamburgs im 17. Jahrhundert – und trotzdem sind seine Werke unerforscht. Als Kantor war er 20 Jahre lang für die Kirchenmusik in den fünf Hamburger Hauptkirchen verantwortlich. Dass seine Werke bisher kaum untersucht wurden, hat einen Grund: Selle hinterließ seine Kompositionen nur als Stimmbücher, das heißt, für jedes Instrument liegen separate Notenblätter vor. In meinem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt arbeiten wir nun Selles Gesamtwerk auf und edieren seit 2015 die in den ‚Opera omnia‘ enthaltenen 281 Musikstücke.
Danach werden die Partituren in einer digitalen Datenbank zugänglich gemacht. Historisch gesehen sind die Stücke etwas Besonderes: Sie haben einen künstlerischen Anspruch, der im 17. Jahrhundert ungewohnt war – und der durchaus im Zusammenhang mit der Reformation stand. Schließlich teilten die meisten Hamburger Geistlichen die Überzeugung, dass Musik nicht nur im Sinne Luthers die Wirkung des Wortes verstärke, sondern sogar einen Vorgeschmack auf das himmlische Jenseits gebe. Selle profitierte davon doppelt: Erstens konnte er ‚moderne‘ Musik komponieren und zweitens erhöhte er die Anzahl der Musiker auf eine Größe, die in Norddeutschland einzigartig war. Als Musikhistorikerin freue ich mich, die Werke einer so bedeutenden Figur zu entdecken – die dazu wirklich wunderbar klingen.“
Prof. Dr. Edgar Ring, Archäologie:
„Meine Forschung beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Reformation auf die gegenständliche Alltagswelt.
Bei einer Ausgrabung in Lüneburg fand man 1994 in einer Töpferei gut erhaltene Ofenkacheln aus dem 16. Jahrhundert. Auf ihnen war in verblüffend guter Qualität das Bildprogramm des Protestantismus zu sehen, also in Ton gebrannte Abbilder von Luther oder von Bildern wie Cranachs ‚Allegorie auf Gesetz und Gnade‘. Ein Kachelofen war zwar in erster Linie ein Heizkörper und damit Nutzobjekt. Dennoch stand er in der Wohnstube, die beim Bürgertum auch repräsentative Zwecke erfüllte – die Ofenkacheln können also als Beleg für die konfessionelle Identität und das konfessionelle Selbstbewusstsein der Besitzer betrachtet werden. Anhand der Verbreitung der Ofenkacheln können wir den Prozess der Reformation erforschen, d. h. wie die Reformation vom Zeitpunkt ihrer Verkündung an Einzug in den Alltag der Menschen hielt und wie die Haushalte konfessionalisiert wurden. Auf der Suche nach den Vorlagen für die Ofenkachelbilder ergeben sich auch Verbindungen zur Kunstgeschichte und zur Theologie. Eine spannende interdisziplinäre Arbeit.“
Der Text ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen, die seit Oktober in den Foyers der Uni-Gebäude und dem Unikontor sowie den Mensen und Bibliotheken erhältlich ist.
... noch mehr Reformationsforschung!
Das interdisziplinäre Graduiertenkolleg „Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit“, das von Prof. Dr. Anselm Steiger geleitet wird und an dem auch Prof. Dr. Margit Kern beteiligt ist, erforscht Austauschprozesse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Konfessionen, die sich nach der Reformation im 16. und 18. Jahrhundert entwickelten. Der Fokus liegt darauf, wie sich die Konfessionen in verschiedenen Medien widerspiegeln, beispielsweise in Literatur, bildender Kunst, Theater und Musik.
Das Deutsche Bibel-Archiv an der Universität Hamburg besitzt zwei Bibeln in der Luther-Übersetzung, eine aus dem Jahr 1533, eine andere aus dem Jahr 1596. Das Besondere: Beide Bibeln sind in niederdeutscher Sprache verfasst, vermutlich wurden sie von Johann
Bugenhagen und David Wolder, Pastoren der Hamburger Hauptkirche St. Petri, übersetzt.