Kodex Wissenschaftsfreiheit
Präambel
Der Wissenschaft ist durch die Verfassung ein Raum der Autonomie gewährleistet, in dem wissenschaftliche Praxis nach Maßgabe eigener Kriterien realisiert werden kann. Diese Freiheitsgewährleistung, die ihren Niederschlag in Art. 5 Abs. 3 GG gefunden hat, umschreibt damit zugleich normative Grenzen für Interventionen und Beeinträchtigungen jeglicher Art, die allerdings in der Praxis nicht immer respektiert werden. Vielmehr finden sich Wissenschaftler:innen – innerhalb und außerhalb ihrer Institutionen – mit Ansprüchen konfrontiert, die sie als wissenschaftsfremd wahrnehmen; sie sind dem Druck von Erwartungen ausgesetzt, die sie nicht akzeptieren können und wollen, und sie werden in gesellschaftliche Konflikte hineingezogen, die nach Maßgabe von Kriterien ausgetragen werden, die sie als wissenschaftlich unangemessen empfinden.
Diese Konfliktfelder sind nicht neu und auch nicht erstaunlich. Schließlich ist der Wissenschaft ihre Freiheit zur Hervorbringung neuen Wissens garantiert. Neues Wissen, hinreichend gesichert oder nicht, setzt nicht selten vorhandene Perspektiven, Einstellungen und Praktiken einer Zumutung aus und kann schon deshalb nicht auf jederzeitige und umfassende Akzeptanz zählen. Insofern sind entsprechende Konflikte weder ungewöhnlich noch bedrohlich, sondern gehören zu einer differenzierten und multiperspektivischen Gesellschaft, in der auch die Wissenschaft Rechtfertigungsforderungen ausgesetzt ist. Und nicht selten sieht sich Wissenschaft mit wissenschaftlicher Kritik konfrontiert, etwa bei Fragen der Risikoeinschätzung von neuen Technologien. In einer demokratischen Gesellschaft ist dies legitim. In diesem Sinne ist nicht jeder Konflikt auch schon eine Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit, als die er gelegentlich inszeniert wird.
Ungeachtet dessen gibt es gute Gründe, sich einiger Grundlagen zu vergewissern, die für die freiheitliche Ausübung wissenschaftlicher Tätigkeiten von Bedeutung sind. Anlässe dafür gibt es genug. Als Stichworte mögen genügen: Störung missliebiger Vorlesungen oder Seminare, Verweigerung wissenschaftlicher Auseinandersetzung aufgrund von politischen oder religiösen Einstellungen, Ausübung politisch motivierten Drucks auf Wissenschaftler:innen, Delegitimierung wissenschaftlicher Themen oder Gegenstände, die fehlende Bereitschaft, sich mit Vorstellungen und Inhalten, die als unbequem oder bedrohlich empfunden werden, auseinanderzusetzen, aber auch strukturelle, manchmal subtile und informelle Einflussnahme. Solche Praktiken mögen aus wissenschaftsfremder Perspektive kurzfristige Erfolge versprechen; langfristig bedrohen sie aber die Hervorbringung neuen Wissens, das für moderne Gesellschaften unverzichtbar ist.
Der vorliegende Kodex soll mit seinen 11 Kernthesen und deren Erläuterungen die unverzichtbaren Grundlagen von Forschung und Lehre angesichts immer wieder aufkeimender Debatten im Umgang mit Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit verdeutlichen. Er soll den Rahmen der Ausübung der Freiheit verdeutlichen. Die Gewährleistung von Autonomie beinhaltet sowohl die Möglichkeit als auch die Verantwortung ihrer Gestaltung durch ein produktives Zusammenwirken aller Mitglieder der Universität, auch im Sinne des Leitbildes der Universität Hamburg.
I. Wissenschaftsfreiheit als individuelles und institutionelles Recht
I. Kernthese
Die individuelle und institutionelle Freiheit der Wissenschaft ist rechtlich garantiert. Wissenschaft ist ein grundsätzlich vor Fremdbestimmung geschützter Bereich autonomer Verantwortung. Dieser Autonomie liegt die Idee zugrunde, dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft, Staat und Gesellschaft letztlich am besten dient. Die rechtliche Garantie schützt ohne verfassungsrechtlichen Vorbehalt die Freiheit der Wissenschaftler:innen, die Gegenstände ihrer Forschung zu wählen, die von ihnen für adäquat gehaltenen Methoden anzuwenden und die Forschungsfragen und Ergebnisse zu kommunizieren.
Sie umfasst mit Blick auf Inhalt, Methoden und Ablauf der Lehrveranstaltungen ebenso die Freiheit der Lehre. Der Schutz der wissenschaftlichen Kommunikations- und Handlungszusammenhänge erstreckt sich ebenso auf die Freiheit und Integrität der wissenschaftlichen Institutionen. Dabei umfasst die Wissenschaftsfreiheit die Verpflichtung staatlicher Instanzen und der Leitungsorgane von wissenschaftlichen Institutionen, diese Freiheitsräume, auch vor unzulässigen gesellschaftlichen Beeinträchtigungen, zu schützen.
Erläuterung
Die Universität ist eine säkulare, auf Pluralität in wissenschaftlichen und weltanschaulichen Fragen verpflichtete Einrichtung der Forschung, Lehre und Bildung, die an Methoden und Standards wissenschaftlicher Forschung und Lehre gebunden ist. Im Hintergrund steht Art. 5 Abs. 3 GG: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Das Grundgesetz gewährt den Hochschullehrer:innen, den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und unter bestimmten Voraussetzungen auch den Studierenden ein individuelles Freiheitsrecht, das auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf die Wahl des Forschungsgegenstandes sowie auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtet ist.
Auch die Hochschule selbst kann sich mit Blick auf die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung auf das Grundrecht berufen. Die staatlichen Institutionen sind verpflichtet, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen und zu fördern und eine Hochschulorganisation zu schaffen, die unter Wahrung des Freiheitsanspruchs der Einzelnen die Funktionsfähigkeit der Hochschule sicherstellt. Schranken für die Wissenschaftsfreiheit können sich nur aus anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern ergeben.
II. Der Freiraum der Wissenschaft
II. Kernthese
Die Universität ist der wissenschaftlichen Erkenntnis als einem offenen Prozess verpflichtet und muss daher ein Freiraum der Entwicklung und Erprobung neuer Thesen, deren Festigung oder Widerlegung im wissenschaftlichen Diskurs sein. Wissenschaftliche Positionen sind nicht an vorherrschende Vorstellungen gebunden und auch nicht vorab zu bewerten; die Freiheit ist vielmehr auch und gerade denjenigen gewährt, die abweichende wissenschaftliche Positionen entwickeln und äußern. Anders lässt sich wissenschaftlicher Fortschritt nicht denken. Wissenschaftliche Diskurse dürfen und müssen daher immer auch Bekanntes in Frage stellen und mit Neuem herausfordern können.
Erläuterung
Jeder Versuch, den geschützten Raum der Wissenschaft auf Bekanntes oder auf die Beachtung religiöser, politischer und ethischer Positionen zu verpflichten, engt den wissenschaftlichen Diskurs in unzulässiger Weise ein und droht Kreativität und Innovation im Keim zu ersticken. Der Versuch, missliebige Positionen in der Forschung wie in der Lehre durch Machtausübung, Störung, Verhinderung oder Skandalisierung von Veranstaltungen aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu drängen, verfehlt die Eigenlogik des wissenschaftlichen Diskurses. Dessen Offenheit muss auch und gerade für innovative und sich vom Bekannten entfernende Positionen gelten. Die grundsätzliche Offenheit gegenüber abweichenden Positionen ist dabei nicht mit Kritiklosigkeit zu verwechseln (siehe These VI).
III. Die Grenzen der Freiheit
III. Kernthese
Jede rechtliche Garantie von Freiheit ist mit Grenzen verbunden, schon weil diese Freiheit mit anderen Freiheiten rechtlich abzustimmen ist. Dies gilt innerhalb der Institution Universität wie auch im Hinblick auf die Rechte externer Dritter. Für die Wissenschaft liegen die Grenzen dort, wo durch wissenschaftliche Tätigkeiten die Grundrechte anderer Mitglieder der Universität oder Dritter unmittelbar betroffen sind und deshalb die Rechte der Wissenschaftler:innen mit ihnen abgestimmt werden müssen.
Dies mag sich für Forschung und Lehre unterschiedlich darstellen. Beeinträchtigungen können sich durch die Forschungstätigkeit als solche ergeben, desgleichen aber auch im Rahmen der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse in Forschung und Lehre. Insoweit können Art und Umfang von Einschränkungen durchaus unterschiedlich sein und müssen daher in differenzierter Weise gerechtfertigt werden.
Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat keinen Vorrang gegenüber anderen Grundrechten, etwa dem Recht auf Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 GG. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates für Leben und Gesundheit, aber auch für andere Rechtsgüter können selbstverständlich eine Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen. Das Ausmaß der Beschränkung bemisst sich nach dem Umfang und der Konkretheit der Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter.
Erläuterung
Wissenschaftliche Auseinandersetzungen inhaltlicher Art sind Ausübung der Wissenschaftsfreiheit, nicht Beschränkung derselben. Wo durch kollidierende Grundrechte Beschränkungen erforderlich sind, bedarf es geeigneter Strategien der Konfliktlösung. Soweit es um einen Konflikt zwischen den Mitgliedern der Universität geht, ist zunächst der Versuch einer Abstimmung der kollidierenden Freiheiten über interne Diskussionen zu unternehmen, um eine Verständigung zu erreichen. Da für die Universität die Bereitschaft zum Diskurs konstitutiv ist, hat dieser auch das vordringliche Mittel zur Abstimmung konfligierender Positionen/zur Beilegung von Konflikten zu sein. Wo die interne Konfliktlösung nicht erfolgreich ist oder gar nicht erst gesucht wird, sind die kollidierenden Grundrechte durch die verantwortlichen Leitungsgremien in geeigneten Verfahren zum Ausgleich zu bringen.
Alle Mitglieder und ihre Gruppen sind berechtigten Erwartungen, Ansprüchen und Rechten der übrigen Mitglieder, insbesondere auch der Studierenden ausgesetzt. Es sind nicht allein die Hochschullehrer:innen und Nachwuchswissenschaftler:innen, die den Auftrag der Universität konkretisieren; auch die Studierenden sind selbstständige Teilnehmende an universitären Diskursen und Veranstaltungen, die mit fortgeschrittener Ausbildung zunehmend auch Teilnehmer:innen des wissenschaftlichen Diskurses sind. Darin liegt ein wichtiges Bildungsziel der Universität. Unabhängig davon, ob den Studierenden ein Recht aus Art. 5 Abs. 3 GG oder aus Art. 12 Abs. 1 GG zusteht, ist – so auch das Leitbild Lehre – ihr Recht auf aktive Teilnahme mit der Idee und dem Auftrag der Universität verbunden.
Wie und in welchem Umfang konfligierende Erwartungen, etwa im Hinblick auf den Freiraum für Diskussionen, miteinander zu vermitteln sind, hängt vom Stand der Ausbildung und in der Lehre auch vom Konzept der jeweiligen Veranstaltung ab. Die Freiheit der Lehre umfasst deren Gestaltung. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen muss nicht auf Lehrveranstaltungen beschränkt sein, sondern kann auch andere hochschulöffentliche Formen umfassen, die die Studierenden in eigener Kompetenz und Verantwortung gestalten können. Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit zugunsten anderer Rechtsgüter können sich auch mit Rücksicht auf Rechte außerhalb der Hochschule stehender Dritter ergeben. Sie finden sich zahlreich. Angesichts der Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft und angesichts ihrer vorbehaltlosen Gewährleistung sind Einschränkungen stets auf das Unabdingbare zu begrenzen. Das Ausmaß ist abhängig von Art und Grad der möglichen Beeinträchtigung Anderer. Die bloße Vermutung möglicher Gefahren rechtfertigt keine Einschränkung.
IV. Verantwortung für das eigene Handeln
IV. Kernthese
Die Wissenschaftsfreiheit geht einher mit der Verantwortung für das eigene Handeln und setzt dessen Reflexion voraus. Sie enthebt somit nicht von der Rechtfertigung der eigenen Position. Sie sichert jedoch, dass auch diese persönliche Verantwortung in Freiheit und Unabhängigkeit wahrgenommen werden kann.
Erläuterung
Wissenschaftsfreiheit entbindet die Forschenden nicht von der wissenschaftsethischen Pflicht, sich Rechenschaft über die Folgen des eigenen Handelns abzulegen. Forschung zielt vielfach auf kritische Befragung gesellschaftlicher Verhältnisse und sucht Impulse für deren Änderung zu setzen. Doch selbst reine Grundlagenforschung trägt immer das Potenzial in sich, Prozesse der Veränderung mit tiefgreifenden sozialen Implikationen auszulösen. Reflexion über die möglichen oder akuten Folgen des eigenen Handelns als Wissenschaftler:in ist eine ethische Verpflichtung und schließt die Verpflichtung ein, sich kritischen Fragen zu stellen.
Das Verlangen nach Rechtfertigung der eigenen Position ist kein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern integrales Element des Diskurses, und aktiviert die Verantwortung der Wissenschaftler:innen. Dabei muss es immer um einen Prozess autonomer Reflexion der eigenen Verantwortung gehen; Versuche einer heteronomen Bestimmung der „angemessenen“ Verantwortung durch Autoritäten oder externe Instanzen können dagegen stets in eine akute Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit umschlagen (siehe These V.).
V. Missbrauch von Forschungsergebnissen
V. Kernthese
Wissen kann für vielfältige Zwecke genutzt werden, die regelmäßig nicht voraussehbar sind. Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Verwendung der in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse durch Dritte rechtfertigt keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Dies beruht auf der Überzeugung, dass neues Wissen nicht schadet. Insofern sind auch die mit neuen Erkenntnissen einhergehenden Auseinandersetzungen kein Grund für deren Einschränkung.
Die Forderung nach Reflexion über mögliche Folgen der wissenschaftlichen Tätigkeit darf nicht zur Begrenzung von Forschungsgegenständen und -erkenntnissen führen. In diesem Sinne ist jegliche Kontrolle durch die Etablierung von Zulassungsverfahren grundsätzlich abzulehnen. Diese können nur dort legitim sein, wo es um den Schutz Dritter vor konkreter Gefährdung geht. Ethische Erwägungen allein vermögen eine rechtliche Einschränkung der Freiheit nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch für eher indirekte Einflussnahme und Steuerung über Ressourcenzuweisungen.
Erläuterung
Die missbräuchliche Nutzung von Forschungsergebnissen kann nicht ausgeschlossen werden. Jede neue Erkenntnis kann potenziell für schädliche Zwecke verwendet werden. Diese Möglichkeit rechtfertigt es nicht, die Forschungsfreiheit von vornherein zu beschränken. Dass Forschungsergebnisse auch verstörende Wirkung haben können, ist hinlänglich bekannt. Eine entsprechende Auseinandersetzung kann selbst Forschungsgegenstand sein, ist aber in erster Linie gesellschaftlich zu leisten und nicht durch Beschränkung der Forschung. Die Diskussion über Zivilklauseln oder über sicherheitsrelevante Forschung unter Einsatz von Kommissionen zu deren Beurteilung ist im Hinblick auf die Wissenschaftsfreiheit kritisch zu betrachten.
Wenn eine Zivilklausel in erster Linie die Selbstreflexion der wissenschaftlich Tätigen zum Ziel hat, um für einen verantwortlichen Umgang mit neuen Erkenntnissen und entsprechende Begleitung bei deren Umsetzung zu sensibilisieren, ist sie legitim. Sofern durch sie jedoch Forschungsgegenstände grundsätzlich ausgeschlossen werden, verfehlt solche Einflussnahme ihren Zweck.
Die Problematik kann am Beispiel mathematischer Forschung verdeutlicht werden. Diese ist fast immer sicherheitsrelevant, denn letztlich ist die Mathematik die Sprache, in der technische oder naturwissenschaftliche Probleme besonders effizient ausgedrückt und häufig auch gelöst werden können. Der Bau einer Atombombe ist ohne mathematische Methoden nicht möglich. Gleichwohl würde niemand Mathematik per se als sicherheitsrelevante Forschung bezeichnen. Die Grenzziehung kann letztlich nur durch Selbstreflexion der Wissenschaftler:innen erfolgen und nicht durch von außen aufgeprägte Normen.
VI. Offenheit und Inklusivität der Wissenschaft
VI. Kernthese
Die Offenheit und Inklusivität des wissenschaftlichen Diskurses ist ein tragendes Element der Freiheitsgarantie. Dies beinhaltet auch die Offenheit für Kritik und für die Ablehnung oder Widerlegung der eigenen Positionen.
Erläuterung
Von einer „Freiheitsgarantie“ kann gesprochen werden, weil Handlungen, die Freiheit zu verhindern drohen, mit Rechtsmitteln abgewehrt werden können. Die „Offenheit“ des wissenschaftlichen Diskurses schließt das Recht ein, dessen bisherige Ergebnisse infrage zu stellen, mit wissenschaftlichen Mitteln zu problematisieren und neue Erkenntnisse und Begründungen zur Geltung zu bringen. Mit „Inklusivität“ ist gemeint, dass alle Ansprüche auf Erkenntnis der Überprüfung und methodischen Hervorbringung von Wissen unterliegen und damit ihrerseits zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik werden können.
Wissenschaft beruht auf fortgesetzt kritischer Behandlung von Geltungs- und Erkenntnisansprüchen und lebt vom Zweifel am Vorgegebenen und von der Unterbrechung von Routinen, die sich unter der „Tarnkappe“ der Selbstverständlichkeit der Prüfung entziehen. Darum ist Offenheit für Kritik gerade auch dort gefragt, wo die eigene Perspektive, die eigene Weltsicht oder das subjektive Urteil auf den Prüfstand kommen.
Falsifikation, Widerspruch und Widerlegung sind Mittel des Erkenntnisgewinns; wo sie nicht im Modus der permanenten Selbstkorrektur leicht von der Hand gehen, sondern die Forschungsergebnisse und Einsprüche anderer den eigenen Überzeugungen widerstreiten, steht der Zusammenhang von Wissenschaft und Freiheit vor der wichtigsten Bewährungsprobe. Die Universität hält deshalb den Freiraum kritischer Auseinandersetzung auch dort offen, wo die demokratische Öffentlichkeit aufgrund eingespielter Überzeugungen empfindlich oder gar empört auf Infragestellung reagiert. Kriterien für das, was im wissenschaftlichen Diskurs unzulässig ist, sind mangelnde Selbstkritik, Unbekümmertheit um den relevanten Diskussionsstand oder begründungsloses Behaupten, nicht aber die Entzauberung des Selbstverständlichen.
VII. Forschung als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung
VII. Kernthese
Wissenschaft nimmt immer auch am gesellschaftlichen Diskurs teil. Wissenschaftler:innen werden in gesellschaftliche Auseinandersetzungen hineingezogen oder beteiligen sich aus eigenem Antrieb daran. Die Logik wissenschaftlicher Kommunikation und die Logik medialer Aufmerksamkeit sind dabei nicht ohne weiteres kompatibel. Daher müssen wissenschaftliche Bewertungen nicht immer auf das wohlwollende Verständnis anderer gesellschaftlicher Akteur:innen treffen. Wo Wissenschaftler:innen Kritik erfahren, ist diese als wesentliches Element der Wissenschaft auch dann auszuhalten, wenn sie nicht den Anforderungen an Sachlichkeit genügt, die im wissenschaftlichen Diskurs gelten. Die Kritik ist jedenfalls so lange hinzunehmen, wie ihr eigentliches Ziel nicht die Beeinträchtigung der persönlichen Integrität oder anderer Rechtsgüter ist.
Erläuterung
Wissenschaft ist notwendig in gesellschaftliche Diskurse eingebettet, schon aufgrund des Ursprungs vieler wissenschaftlicher Fragen in vorgängigen Problemen der Gesellschaft, desgleichen aber angesichts der absehbaren oder potenziellen Folgen für die Gesellschaft, die aus jeder Forschung erwachsen. Werden für die Gesellschaft bestimmte problematische – oder als problematisch eingeschätzte – Folgen sichtbar, so führt dies notwendig zu kritischen Nachfragen oder Diskussionen.
Wissenschaft entgeht diesen Diskursen nicht, sollte auch gar nicht den Versuch unternehmen, sich von ihnen abzuschotten. Zum Teil schaltet sich Wissenschaft gezielt in gesellschaftliche Auseinandersetzungen ein, zum Teil wird sie aber auch durch Dritte in derartige Auseinandersetzungen hineingezogen. Forscher:innen müssen sich dann der Debatte stellen, was noch keine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit darstellt. Allerdings weicht die Logik wissenschaftlicher Kommunikation stark von derjenigen der medialen öffentlichen Debatte ab, was nicht mit der medialen Aufmerksamkeit vertraute Wissenschaftler:innen befremden oder irritieren kann. Entgehen lässt sich dieser Spannung nicht – Wissenschaftler:innen haben sich auch den Zumutungen medial inszenierter, öffentlicher Debatten zu stellen, schon wegen der Notwendigkeit der Rechtfertigung eigener Positionen gegenüber der Öffentlichkeit.
Die Grundbedingungen konstruktiver Kritik im Interesse des Erkenntnisprozesses mögen dabei nicht immer gewahrt sein, Forscher:innen müssen hier unter Umständen auch mit Formen unsachlicher und einseitiger, verzerrter Kritik rechnen. Auch diese Formen öffentlicher Kritik muss Wissenschaft jedoch aushalten. Anforderungen wissenschaftsgeleiteter Kommunikation können an öffentliche Debatten nicht angelegt werden; Forscher:innen müssen lernen, mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen. Wissenschaftsfreiheit ist erst da gefährdet, wo einseitige, voreingenommene Kritik unter Ausnutzung gesellschaftlicher Machtpositionen die Forschung in ihrer inneren Autonomie zu beschneiden droht oder Forscher:innen wegen ihrer Positionen persönlich angegriffen und in ihrer persönlichen Integrität beeinträchtigt werden.
VIII. Schutz der Personen durch die Institution
VIII. Kernthese
Wissenschaftler:innen können individuell oder gemeinsam mit ihren Fachgemeinschaften Auseinandersetzungen und Angriffen selbstbewusst entgegentreten. In Fällen, in denen die Betroffenen oder ihre Institutionen mit ernsthaften Beeinträchtigungen rechnen müssen, in Fällen von Ausgrenzung und Androhung persönlicher Nachteile, bedarf es der Solidarität ihrer Einrichtungen. Wissenschaftler:innen müssen darauf vertrauen können, dass sie unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Position unterstützt und geschützt werden.
Erläuterung
Die akademische Freiheit bedarf des verlässlichen Schutzes vor wissenschaftsfeindlichen und wissenschaftsfremden Eingriffen. Wissenschaftler:innen müssen sich darauf verlassen können, dass die Universität als Institution zu der Verpflichtung steht, die verfassungsrechtlich garantierte und auch moralisch gut begründete Wissenschaftsfreiheit entschlossen zu schützen. Dieser Schutz hat prinzipiell zu gelten. Er darf nicht von Status, Art des Beschäftigungsverhältnisses und politischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen abhängen.
Die Wissenschaftler:innen müssen darauf vertrauen können, dass ihre unmittelbaren Kolleg:innen und Vorgesetzten ebenso wie die Universitätsleitung sie bei der Ausübung ihrer rechtlich garantierten Lehr- und Forschungsfreiheit unterstützen und vor Angriffen verteidigen. In Fällen von physischer Gewalt, Herabsetzung, Beleidigung, Einschüchterung, Mobbing etc. muss gerade die kollegiale Unterstützung der davon Betroffenen für diese eine Selbstverständlichkeit sein, die nicht ihrerseits erst noch erkämpft werden muss.
Gerade im Blick auf Wissenschaftler:innen in der Qualifikationsphase, die noch keine gefestigte Position im Wissenschaftssystem haben, können persönliche Angriffe unter Drohung auch beruflicher Konsequenzen massive Gefährdung für die Autonomie des Forschens und damit die Wissenschaftsfreiheit mit sich bringen. Die wissenschaftliche Institution hat sich in solchen Fällen schützend vor ihre Angehörigen zu stellen. Die kollegiale Unterstützung bezieht sich auch auf die Abwehr von Sekundäreffekten: Angegriffene Wissenschaftler:innen sollen nicht fürchten müssen, als wissenschaftliche Gesprächs- und Kooperationspartner:innen gemieden zu werden.
IX. Raum zur Erprobung neuer Thesen
IX. Kernthese
Angriffe auf die Freiheit der Wissenschaftler:innen gilt es auch innerhalb der Universität abzuwehren. Auch hier greift die Schutzpflicht des Staates und der Präsidien, Rektorate und Dekanate. Diese müssen dafür einstehen, dass die Universität als Raum zur Erprobung vorläufiger und abweichender Thesen offensteht. Diese Offenheit wird empfindlich beeinträchtigt, wo Veranstaltungen oder Forschungsformate gestört oder gar blockiert werden. Eine Beeinträchtigung liegt ebenso vor, wenn Personen aufgrund ihrer inhaltlichen Position diffamiert werden oder der Diskursraum durch ein Klima moralischer oder gesellschaftspolitischer Verwerfung eingeengt wird.
Erläuterung
Mit dem Hinweis auf den notwendigen Raum zur Erprobung von Thesen soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auch die Lehre zum wissenschaftlichen Erkenntnisprozess beiträgt. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen mitgeteilt werden, und ob eine Mitteilung verständlich ist, zeigt sich erst in der Reaktion der Adressaten. Die Verständlichkeit muss von den Wissenschaftler:innen getestet werden können. Mitteilungen können variieren, je nachdem, ob sie sich an Studierende zu Beginn oder am Ende des Studiums oder aber an andere Expert:innen richten.
Die Universität kann ihre Aufgaben nur in einem Raum erfüllen, in dem ein gewaltfreier, rationaler wissenschaftlicher Austausch gemäß den wissenschaftlichen Standards möglich ist. Jegliche Form von Einschüchterung durch einzelne oder Gruppen ist damit unvereinbar. Auch Praktiken wie das Heraustragen vorläufiger als vermeintlich fertiger Thesen in die Öffentlichkeit, die Verzerrung geäußerter Thesen, vorgeblich wörtliches Zitieren oder mehr oder weniger bewusste Falschdarstellungen sind dazu angetan, die Reputation von Wissenschaftler:innen empfindlich zu beeinträchtigen. Solche Handlungen üben auch einen mittelbaren Druck aus, welcher der Spontaneität und Risikobereitschaft in der Diskussion abträglich sein kann. Alle am Prozess der Wissenschaft Beteiligten tragen Verantwortung dafür, diesen geschützten Raum nicht ohne Not zu stören. Dazu gehört es auch, die Vertraulichkeit von Beratungen und Entscheidungsprozessen zu wahren.
X. Bedeutung von Ressourcen-Entscheidungen
X. Kernthese
Die Freiheit der Wissenschaft stößt dort an praktische Grenzen, wo aufgrund fehlender oder unzureichender Mittel Forschungsfragen gar nicht oder nur beschränkt verfolgt werden können. Ungeachtet der unvermeidbaren Setzung von Prioritäten bei der Finanzierung von Forschung und Lehre ist die thematische und institutionelle Vielfalt der Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten eine wichtige Bedingung der Freiheit.
Erläuterung
Die zur Verfügung stehenden Ressourcen haben einen direkten Einfluss darauf, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang akademische Freiheiten in Forschung und Lehre real wahrgenommen werden können. Die Ressourcenverteilung muss daher der Wissenschaftsfreiheit gerecht werden. Abgesicherte Bereiche müssen für die Grundlagenforschung ebenso verbleiben wie die notwendige Vielfalt der Wissenschaftsdisziplinen gewährleistet bleiben muss. Forschungssteuerung, Prioritätensetzung und zweckgebundene Mittelzuweisung oder Verwendungsauflagen, wie sie die Wissenschaftsfreiheit zulässt und erfordert, sind legitim; in ihnen können sich wichtige gesellschaftliche Bedürfnisse und Erfordernisse widerspiegeln. Allerdings müssen solche Entscheidungen in einer an die jeweilige Entscheidungsebene angepassten Weise mittels angemessener Partizipationsverfahren, in transparenter Form und unter Berücksichtigung der daraus jeweils resultierenden Chancen realisierbarer Freiheiten getroffen werden.
XI. Verantwortung der akademischen Selbstverwaltung
XI. Kernthese
Innerhalb der akademischen Selbstverwaltung sind die Mitglieder der Universität und deren Organe gehalten, sich wissenschaftsfremden Erwägungen in den eigenen Entscheidungsprozessen sowie wissenschaftsfremden Verfahren und Strategien der Qualitätssicherung entgegenzustellen. Ebenso ist es ihre Aufgabe, durch geeignete Strukturmaßnahmen den Machtmissbrauch oder die Machtakkumulation Einzelner oder bestimmter wissenschaftlicher Strömungen in Entscheidungsgremien zu verhindern.
Erläuterung
Die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährte Autonomie der Wissenschaft begründet eine Verantwortung der akademischen Selbstverwaltung, diese zu schützen und zu fördern. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf wissenschaftsfremde Einflussnahme auf Forschung und Lehre. Die Pluralität von Personen und Positionen ist dafür ebenso wichtig wie die Erhaltung und Förderung unterschiedlicher Zugänge zur Forschung. Nachhaltigkeit bedeutet insofern auch Vielfalt. Nicht aus der Vereinheitlichung von Wissenschaft, sondern aus der fruchtbaren Spannung unterschiedlicher Ansätze und Zugänge entstehen im Zweifelsfall neue Impulse für Forschung und Lehre.
Diese Vielfalt ist auch gegenüber den durchaus wichtigen Verfahren der Qualitätssicherung zu betonen, die durch inadäquate Kriterien zu ungerechtfertigter Vereinheitlichung beitragen können. Die Herausbildung von Schwerpunkten ist zweifellos wichtig, ebenso wichtig ist es aber, eine strukturelle Offenheit, zum Beispiel durch Risikofonds zur Entwicklung neuer Forschungslinien, zu erhalten. Dies gilt auch für die eigenen Entscheidungsprozesse der Einrichtungen. Auch Standardisierung durch die Verwaltung, so hilfreich und unvermeidlich sie auch sein mag, muss sich immer wieder der Besonderheiten ihres Gegenstandes vergewissern. Fachkulturen haben ihre Berechtigung, und ihre begründete Eigenlogik verdient Beachtung.
Die Verfahren zum Schutz vor wissenschaftlichem Fehlverhalten verdeutlichen, dass unlautere Praktiken und Machtmissbrauch durchaus ein Problem in der Wissenschaft darstellen, durch das die Karrieren von Nachwuchswissenschaftler*innen ebenso beeinträchtigt und zerstört werden können, wie sie die Reputation von Einrichtungen schädigen und das Vertrauen in die Wissenschaft untergraben können. Dem selbstbewusst entgegenzutreten und auch insoweit die Offenheit der Institution zu erhalten, ist Aufgabe aller Wissenschaftler:innen, aber auch der ebenso zuständigen Leitungsgremien der Universität auf allen Ebenen. Die dafür vorgesehenen Verfahren sind zu stärken und ihre Unabhängigkeit zu sichern.
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Kommission
Marion Albers, Jörn Behrens, Matthew Braham, Dagmar Felix, Andreas Guse, Florian Lucks (Koord.), Eileen Lübcke, Ute Lübke, Michael Moxter, Stefan Oeter, Daniela Rastetter, Birgit Recki, Hans-Heinrich Trute (Vors.), Olaf Walther.